Der Kampf für Selbstbestimmung

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Auseinandersetzung mit dem Angriff auf trans Personen

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In den letzten zwei Jahren überrollte eine regelrechte Welle von Anti-trans- und Anti-LGBTIQ*-Gesetzen die Vereinigten Staaten. In Dutzenden Bundesstaaten wurden Anträge eingebracht, mit den ausdrücklichen Zielen, Lehrer*innen zu verbieten sich über Geschlecht oder Sexualität zu äußern; Kindern zu verbieten die passenden Toiletten zu benutzen oder in Sportteams, welche zu ihrem selbstbestimmten Geschlecht passen, mitzuspielen; Schulbeamt*innen dazu zu zwingen, transgender Kinder gegenüber ihren Eltern zu “outen”-und eine angemessene, oft lebenswichtige, medizinische Versorgung für besagte Kinder als illegal zu erklären.

Diese Initiativen zielen auf eine vulnerable Bevölkerungsgruppe ab, die so gut wie keine politische Stimme hat und die bereits jetzt unter unverhältnismäßig hohen Raten von Selbstmord, Obdachlosigkeit und Gewalt leidet – jedes dieser Probleme wird durch diese Gesetze nur verschärft. Zu gleicher Zeit befindet sich der US-Supreme Court im Prozess einen Angriff auf das Abtreibungsrecht zu ermöglichen, was ebenso eine unverhältnismäßige Auswirkung auf trans Menschen nach sich ziehen wird. In ihrer Gesamtheit stellen diese Gesetze und Gesetzesvorschläge eine abgestimmte Attacke auf alle Rechte auf geschlechtliche und sexuelle Selbstbestimmung dar, welche die LGBTIQ*-Bewegungen über Jahrzehnte hinweg errungen haben.

Warum passiert das alles jetzt? Was bedeuten diese Geschehnisse in einem globalen Kontext? Und wie können wir Widerstand leisten?

Sie gaben uns nur Rechte, weil wir ihnen Aufstände gegeben haben.

Von trans Rechten zu geschlechtlicher Selbstbestimmung

Um dieser Welle des erstarkendem Gender-Faschismus zu begegnen, brauchen wir ein angepasstes Bezugssystem, das akkurat beschreibt wofür wir kämpfen.

Die meisten Unterstützer*innen argumentieren innerhalb des Rechtsdiskurses, um ihren Widerstand gegen diese Welle repressiver Maßnahmen zu erklären. Wir schlagen ein anderes Bezugssystem vor: geschlechtliche Selbstbestimmung. Wir wählen diese Darstellungsweise aus mehreren Gründen.

Erstens, sie ist weitreichend. Selbstbestimmung geht über die bloße Verteidigung gegen Angriffe oder die Sicherung staatlicher Garantien hinaus. Es bedeutet gemeinsam zu definieren was ein Leben mit Menschenwürde für uns bedeutet, und die Bedingungen dafür nach unseren eigenen Vorstellungen zu schaffen.

Zweitens, dieses Bezugssystem besinnt sich auf Autonomie. Es benötigt keinen Staat oder andere Autorität, um unsere “Rechte” zu gewähren und zu sichern. Rechte sind ein soziales Konstrukt; sie haben keine Macht ohne Autoritäten welche sie durchsetzen. Obendrein gibt es keinen schlüssigen Weg, um Meinungsverschiedenheiten darüber zu lösen, welche Rechte Menschen verdienen. Aus diesem Grund erodieren staatlich garantierte “Freiheiten”, die auf vermeintlich zeitlosen Rechten beruhen, oft im Laufe der Zeit. Im Gegensatz dazu lenkt die Formulierung unserer Ziele in Bezug auf Selbstbestimmung die Aufmerksamkeit auf unsere eigenen Bedürfnisse, Fähigkeiten und Handlungsmöglichkeiten – sowie auf den Aufbau der kollektiven Macht, die wir benötigen, um sie zu schützen.

Drittens, sie ist miteinbeziehend. Egal ob trans, nicht-binär oder etwas anderes, das Leben aller verbessert sich, wenn alle dazu frei sind, ihr Verhältnis zum Geschlecht selbst zu bestimmen. Das bedeutet nicht, dass wir die Stimmen und Erfahrungen von trans Personen in diesem Kampf in den Hintergrund setzen sollen – im Gegenteil, trans Menschen sind besonders gut in der Lage, alles über die Formen von patriarchaler Unterdrückung und Gewalt, die in dieser Gesellschaft herrschen, zu wissen. Aber dieser Kampf betrifft die Freiheit aller, nicht nur die Freiheit einer “Minderheit”. Anstatt sich selbst als “Ally” im Kampf anderer zu sehen, müssen diejenigen, die sich nicht als trans identifizieren, verstehen, dass auch ihre eigene Freiheiten auf dem Spiel stehen. Genau wie die Angriffe auf die Abtreibungsrechte in Texas und Mississippi nicht aufhören werden, wird alles, womit die Fanatiker*innen bei trans Personen durchkommen, als Nächstes auf andere LGBTIQ*-Personen angewendet werden – und anschließend wird sich herausstellen, dass einige heterosexuelle Personen nicht heterosexuell genug für sie sind.

Zuletzt, dieser Ansatz findet Anklang. Dieses Bezugssystem artikuliert unsere Bestrebungen in Begriffen, die von vielen anderen unterdrückten Gruppen und radikalen Bewegungen verwendet werden. Wenn wir uns selbst als verwurzelt in einer Geschichte verstehen, welche viel größer ist als wir selbst, kann uns das helfen, Inspiration und Wissen aus anderen Bewegungen weltweit und in der ganzen Geschichte zu schöpfen.

Indem wir die Diskussion von den Limitierungen der Rechte in Richtung des Horizonts der Selbstbestimmung verlagern, schlagen wir eine radikal andere Welt vor, in der keine Autoritäten – weder Regierungen, Religionen, die Kernfamilie noch eine andere Autorität –uns innerhalb ihrer engen Vorstellungen davon, wer wir sein sollten und wer wir werden können, einschränken. Das ist besonders wichtig in der gegenwärtigen Zeit, in der die reproduktive Entscheidungsfreiheit ebenfalls unter Beschuss steht, nachdem eine Welle von Anti-Abtreibungsgesetzen in Kraft trat und der US-Supreme Court im Begriff ist, Roe v. Wade zu kippen.

“Wahlfreiheit” und “Rechte” sind nicht genug. Wir brauchen echte Freiheit, und es ist herausstechend klar, dass wir uns dafür nicht an diejenigen wenden können, die angeblich unsere Wahlmöglichkeiten und Rechte schützen.


Transfeindlichkeit und Gender-Faschismus

Die Maßnahmen, welche Gesetzgeber*innen und andere Fanatiker*innen ergreifen, um transgender Menschen in den Vereinigten Staaten zu unterdrücken, spiegeln zwar den existierenden Hass auf eine marginalisierte und zum Sündenbock gemachte Gruppe wieder – sie gehen allerdings auch darüber hinaus. In Verbindung mit der Welle neuer Gesetze, die die reproduktive Autonomie einschränken, stellen sie ein Bestreben dar, eine geschlechtsspezifische staatliche Kontrolle über jeden Aspekt unseres Körpers, unserer Sexualität und unseres täglichen Lebens auszuweiten-was auch Gender-Faschismus genannt werden kann.

Alabama demonstriert, wie dieser Gender-Faschismus aussehen könnte. Ein kürzlich verabschiedetes Gesetz macht es zu einer schweren Straftat, die mit bis zu zehn Jahren Gefängnis bestraft werden kann, wenn mensch jungen bedürftigen Menschen eine geschlechtsangleichende Versorgung bietet. Im vergangenen Jahr stellte die Legislative von Arkansas das bisher einzige andere Verbot von geschlechtsangleichender Pflege vor, das jedoch sofort von einem Gericht blockiert wurde. Alabama SB 184 zwingt auch Lehrkräfte, die von der Identität eines Schülers oder einer Schülerin erfahren, diesen oder diese gegenüber den Eltern zu “outen”. Ein weiteres Gesetz, HB 322, verbietet K-12 Schüler*innen die Benutzung von Toiletten und Schuleinrichtungen, die zu ihrer Geschlechtsidentität passen. Dieses Gesetz verbietet auch jegliche Diskussion von sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität im Unterricht der Klassenstufen K-5.

Solche Gesetze sind in Dutzenden US-Bundesstaaten in Vorbereitung oder wurden schon verabschiedet; Von Floridas berüchtigtem “Don’t Say Gay”-Gesetz, mit dem die inzwischen beliebte republikanische Strategie eingeführt wurde, LGBTIQ* und Unterstützer*innen als “groomer” zu bezeichnen, bis hin zu Arizonas Flut von Gesetzen, die die Teilnahme von transgender Jugendlichen am Sport, geschlechtsangleichende Operationen für Minderjährige, und die Abtreibung nach der 15. Schwangerschaftswoche verbieten – alle an einem einzigen Tag unterzeichnet.

Bei der Unterzeichnung dieser Gesetze verkündete, die Gouverneurin von Alabama, “Ich glaube fest daran, dass, wenn der liebe Gott dich als Jungen gemacht hat, du ein Junge bist, und wenn er dich als Mädchen gemacht hat, bist du ein Mädchen”.

Die höchste gewählte Amtsperson des Staates leugnet die Existenz von trans Menschen. Diese Rhetorik ist nicht nur im Jahre 2022 rückschrittlich. Sie wäre auch in den 1950er Jahren rückschrittlich gewesen. Trans Personen, auch junge, suchen und erhalten in den USA schon seit über einem Jahrhundert geschlechtsangleichende medizinische Eingriffe. Laut Jules Gill-Peterson in Histories of the Transgender Child, gab es in ländlichen Gebieten der Vereinigten Staaten bereits in den 1930er Jahren junge trans Mädchen, die ohne große Zwischenfälle in ihrem selbstbestimmten Geschlecht lebten und öffentliche Schulen besuchten, einschließlich der Toiletten.

Doch in Alabama entscheidet heutzutage die republikanische Gouverneurin – zusammen mit ihrer Bauchrednerattrappe namens “der liebe Gott”, um zu legitimieren, was immer sie sich ausdenkt und entscheidet, welches Geschlecht du zu sein hast. Und wenn du anders denkst, könnte es sein, dass du im Gefängnis landest – zusammen mit deinem Arzt oder Ärztin, deinen Eltern und deinen Lehrer*innen, falls sie sich entscheiden, dich zu unterstützen.

Es ist keine Übertreibung, dies als Gender-Faschismus zu bezeichnen.

Eine Agenda weißer Vorherrschaft

Auch wenn in keinem dieser Gesetze ausdrücklich von Hautfarbe die Rede ist, sollte mensch sich davon nicht täuschen lassen. All diese Angriffe auf trans Personen sind eng mit weißen, rassistischen Strömungen in den Machtzentren unserer Gesellschaft verwoben. Dieser Angriff ist nur die jüngste Inkarnation eines langjährigen Diskurses über den angeblichen “Schutz von Kindern”, der seine rassistischen Wurzeln in der Jim-Crow-Ära hat.

Diese Angriffe sind ein weiterer Teil einer weitreichenden Kampagne in den Vereinigten Staaten, welche darauf abzielt, Diskussionen über Race und Rassismus zu unterbinden. Diese Gesetze erscheinen oft in Begleitung von anderen Gesetzen, die es Lehrkräften verbieten, an öffentlichen Schulen über “kritische Rassentheorie” zu sprechen (in einigen Fällen sogar im selben Gesetzentwurf). Einer der Hauptarchitekten der Anti-LGBTIQ*-Gesetze, Christopher Rufo, wurde bekannt, als er mit Präsident Trump über eine Gesetzgebung beriet, die die Diskussion über Rassismus verbietet. Obwohl die meisten dieser Politiker*innen augenscheinlich keine Ahnung haben, was genau sie verbieten, wenn sie gegen das vorgehen, was sie “kritische Rassentheorie” nennen, sind diese Gesetze Teil einer breiteren Gegenreaktion gegen die Black Lives Matter Bewegung, das 1619 Projekt und andere Bemühungen, die strukturelle weiße Vorherrschaft in amerikanischen Institutionen zu benennen und in Frage zu stellen.

Der Gouverneur von Tennessee rechtfertigte ein Gesetz, das es verbietet, sich zu den rassistischen Wurzeln der Vereinigten Staaten zu äußern mit der Behauptung: “Kritische Rassentheorie ist unamerikanisch. Sie stellt Bevölkerungsgruppen über die Unantastbarkeit des Individuums, welche ein Gründungsprinzip dieser Nation ist.” Damit wird eine Logik geschaffen, die es rechtfertigt Gruppen, die der Auslegung des “Individuums” in einer Weise die den Kapitalismus, die weiße Vorherrschaft und das Patriarchat bewahrt im Wege stehen, ins Visier zu nehmen.

Die Fanatiker*innen hinter dieser Gesetzgebung sehen die Aufrechterhaltung der weißen Vorherrschaft und die Unterdrückung von trans Personen als miteinander verkoppelte Fronten in ihrem Kulturkrieg. Wie Christopher Rufo es vor Kurzem formulierte, “Das Reservoir an Stimmungen zum Thema Sexualität ist tiefer und explosiver als die Stimmungen zum Thema Race”. Diese Demagog*innen sehen sowohl Rassismus als auch Transfeindlichkeit als Treibstoff für ihr Streben nach Macht. Für sie ist Hass ein Antriebsmittel, das ihnen helfen wird, die gesellschaftlichen Verhältnisse in diesem Land um hundert Jahre oder mehr zurückzuwerfen.

Altersdiskriminierung und Unterdrückung der Jugend

Es ist kein Zufall, dass sich diese Gesetze vor allem an Jugendliche richten. Junge Menschen haben sich für ein umfassenderes und selbstbestimmteres Verständnis von Geschlecht eingesetzt. Genau wie konservative Eltern versucht haben, ihre Kinder daran zu hindern, sich gegen COVID-19 impfen zu lassen, haben Anti-trans-Gesetze nichts mit Sicherheit und alles mit Kontrolle zu tun.

Vekehrterweise wurde SB 184, Alabamas transfeindliches Gesetz, “The Vulnerable Child Protection Act” (Gesetz zum Schutz gefährdeter Kinder) genannt, obwohl es oft lebensrettende medizinische Versorgung kriminalisiert. Die Gouverneurin von Alabama, Kay Ivey, verkündete während ihrer Unterschrift: “Wir sollten besonders unsere Kinder vor diesen radikalen, lebensverändernden Medikamenten und Operationen schützen, während sie sich in einer so verletzlichen Phase ihres Lebens befinden. Stattdessen sollten wir uns alle darauf konzentrieren, ihnen zu helfen sich in Erwachsene wie Gott sie vorgesehen hat, zu entwickeln.”

Im Gegenteil, nichts ist für junge Menschen gefährlicher als sie durch repressive, essentialistische Strukturen in Rollen zu zwingen, die nicht ihren individuellen Bedürfnissen entsprechen. Gesetzgebung und staatliche Gewalt wären für das Aufzwingen dieser Normen auf junge Menschen nicht notwendig, wenn sie wirklich “natürlich” wären.


Der globale Kontext

Die Gesetzgebung in den Vereinigten Staaten ist nur die lokale Manifestation einer globalen Welle reaktionärer Gewalt und staatlicher Unterdrückung. Das Ringen für LGBTIQ* Emanzipation ist nicht nur eine randständige “Identitätspolitik” – es werden Narrative und Operationen die für die Strategien autoritärer Macht im einundzwanzigsten Jahrhundert zentral sind konfrontiert. So versuchte Wladimir Putin u. a., den Einmarsch in die Ukraine zu legitimieren, indem er ihn mit einer explizit homophoben “Verteidigung von Werten” in Verbindung brachte.

Anti-LGBTIQ*- und Anti-trans-Gesetze häufen sich auf der ganzen Welt. Die Gesetzgebung von Regierungen in Afrika und im Nahen Osten hat durch den Rassismus und die Orientalisierung US-amerikanischer und europäischer Berichterstattung die meiste Presse erhalten. Aber auch Ungarn hat kürzlich ein Anti-trans-Gesetz verabschiedet und die Adoption durch gleichgeschlechtliche Paare verboten, ebenso wurde in Polen von einer Parlamentskammer ein umfassendes Anti-LGBT-“Propaganda”-Gesetz verabschiedet und mehrere Gemeinden haben sich zu “LGBT-freien Zonen” erklärt. Obwohl sich die westeuropäischen Regierungen normalerweise als entschiedene Verfechter von LGBTQ-Rechten positionieren, sind Frankreich und Italien Hochburgen der so genannten “Anti-Gender-Bewegung,” einer Front in der weltweiten Gegenbewegung gegen die Gleichstellung von trans Menschen.

In Brasilien, Polen und Russland sind die Gesetze von rechtsgerichteten autoritären Regimen verabschiedet worden; die dortigen Politiker*innen verbinden sie mit einer Politik von Law and Order, Nationalismus und konservativer Politik im Allgemeinen. In anderen Kontexten jedoch – vor allem in Israel, aber auch in Teilen Westeuropas – artikulieren Politiker*innen ihre Verteidigung von LGBTIQ*-Rechten Seite an Seite mit antimuslimischer, einwanderungsfeindlicher, militaristischer und nationalistischer Politik, was Aktivist*innen als Pinkwashing und Homonationalismus bezeichnen. Donald Trump hat in notorischer Weise beide Ansätze genutzt: Er reagierte auf das Pulse Massaker mit der opportunistischen Behauptung, dass er die LGBTQ Community unterstützen würde, indem er Muslim*innen und Immigrant*innen angreift, bediente aber gleichzeitig auch seine konservativen Anhänger*innen, indem er Schritte unternahm, um trans Personen wieder aus dem Militär auszuschließen.

Kurz gesagt, während Anti-LGBTQ-Initiativen immer reaktionär sind, fördern nicht immer alle Initiativen die vorgeben, LGBTIQ* Personen zu verteidigen, auch wirklich ihre Gleichberechtigung. Die Unterstützung geschlechtlicher Selbstbestimmung und queerer Emanzipation erfordert einen intersektionellen Ansatz, der auf vollständige Freiheit abzielt. Wir müssen diese Bewegungen nicht bloß als Mittel zur Verbesserung der Bedingungen einer bestimmten Menschengruppe verstehen, sondern als eine der wichtigsten Fronten in einem zusammenhängenden Freiheitskampf gegen alle Systeme der Unterdrückung.

“Die Familie ist das Fundament der Gesellschaft”. Ein Plakat in Vichy, Frankreich, während der Amtszeit von Philippe Pétain, dem mit Hitlerdeutschland verbündeten Politiker.

Anarchist*innen und die trans/queere Emanzipation im Laufe der Geschichte

Anarchist*innen kämpfen schon seit weit über einem Jahrhundert für sexuelle und geschlechtliche Freiheit, noch vor Linken und Liberalen. Das gibt uns ein zusätzliches Anliegen in diesem Kampf und ein längeres Widerstandserbe, auf das wir zurückgreifen können.

Anarchist*innen waren die ersten Aktivist*innen in den USA, die Homosexualität in einem politischen Kontext aufbrachten, sie verteidigten Oscar Wilde nach seiner Verurteilung wegen “grober Unzucht” und forderte einen humanen und rationalen Umgang mit der menschlichen sexuellen Vielfalt. In den Jahren 1916 und 1917 hielt Emma Goldman mitfühlende Vorträge über Homosexualität vor einem landesweiten Publikum und veränderte damit das Leben von Hunderten von Menschen, die wir heute wohl als queer bezeichnen würden, welche bisher zu ihren Lebzeiten ihre Erfahrungen und Wünsche in der Öffentlichkeit nie mitfühlend diskutiert sahen. Einer von ihnen, Dr. Alan Hart, war von Goldmans anarchistischen und pro-queeren Ideen so sehr inspiriert, dass er einen noch nie dagewesenen Schritt unternahm: Er unterzog sich der wahrscheinlich ersten geschlechtsangleichenden Operation in den USA und lebte den Rest seines Lebens als Mann.

Dr. Alan Hart.

Von Dr. Marie Equi, einer radikalen Ärztin, IWW Rednerin und Feministin, bis hin zu Eve Adams, die anarchistische Publikationen verkaufte und eine geheime Lesbenbar in Greenwich Village betrieb, bildeten lesbische Frauen einen wichtigen Bestandteil der anarchistischen Bewegung des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Schwule anarchistische Dichter setzten neue Grenzen im kulturellen und politischen Widerstand – von Robert Duncan, dem führenden Kopf der San Francisco Renaissance, bis hin zu Charley Shively, Gründer von Fag Rag und ein grundlegender Akteur der Befreiung von Schwulen und Lesben. Der führende anarchistische Intellektuelle in der Mitte des 20. Jahrhunderts in den USA, der (bisexuelle) Paul Goodman, schrieb ausführlich über sexuelle Emanzipation in anarchistischen Zeitschriften und Mainstream Publikationen und stellte dadurch eine radikale Stimme in der Schwulen- und Lesbenbewegung vor Stonewall dar. Im einundzwanzigsten Jahrhundert sind queere Anarchist*innen von Queeruption bis zu Bash Back! Teil eines über ein Jahrhundert langen Erbes des erbitterten antiautoritären Widerstands gegen sexuelle und geschlechtliche Normen.

Um die Jahrhundertwende gab es in vielen anarchistischen Kreisen wenig trans oder queere Visibilität. Nur in Großstädten und bei Massenmobilisierungen, in denen sich “rosa Blöcke” oder andere radikale queere Gruppierungen versammelten, haben trans und queere Anarchist*innen so etwas wie eine kritische Masse erreicht. Die Situation hat sich in den letzten Jahrzehnten deutlich verändert. Ein großer Anteil derer, die sich heute zu anarchistischen Ideen hingezogen fühlen, sind trans und queer; Medien welche sich mit Geschlecht und Sexualität beschäftigen, sind sehr gefragt. Viele junge trans und queere Menschen sehen in anarchistischen Ideen einen Weg zur geschlechtlichen und sexuellen Befreiung und viele junge Anarchist*innen stellen geschlechtliche und sexuelle Normen in Frage.

Aus diesem Grund ist es für anarchistische Bewegungen von maßgeblicher Bedeutung, sich dieser Welle von Anti-trans-Unterdrückung entgegenzustellen. Es ergibt sich eine Gelegenheit, eine tyrannisierte Bevölkerungsgruppe zu unterstützen, geschlechtliche und sexuelle Emanzipation mit anderen Kämpfen zu verbinden und für ein Anliegen zu mobilisieren, das die Prioritäten und Bedürfnisse von jungen Radikalen anspricht.

Widerstand leisten

Als Anarchist*innen verlassen wir uns nicht auf Gesetze, Gerichte und Politiker*innen, um Probleme zu lösen, die sie selbst geschaffen haben. Die Rechtsbeistände von ACLU, Lambda Legal und anderen Organisationen, die in Gerichten darum kämpfen, den unmittelbaren Schaden den diese Gesetzesentwürfe verursachen zu blockieren, verdienen unsere Dankbarkeit. Um jedoch die Wurzeln des Problems anzugehen – damit wir von Petitionen für trans Rechte zur Einführung von geschlechtlicher Selbstbestimmung gelangen – brauchen wir einen systemischen Ansatz und keine symptomatische Behandlung.

Das Problem ist nicht nur, was diese Gesetze uns über Geschlecht vorschreiben; sondern, dass Politiker*innen, Richter*innen, religiöse Führer*innen und andere Autoritäre überhaupt ein Mitspracherecht über unser Leben, unsere Körper und unsere Beziehungen zueinander haben. Wir müssen uns den unmittelbaren Problemen und Nöten von trans und nicht konformen jungen Menschen widmen und gleichzeitig die kollektive Widerstandskraft gegen diese Angriffe stärken, um eine Welt jenseits der Binärgrenzen zu schaffen.

Hier sind einige Dinge, die wir tun können.

  • Junge Menschen, die sich selbst autonom organisieren, unterstützen, insbesondere trans und queere Jugendliche. Schafft in eurem Gemeindezentrum, eurem Wohnkollektiv oder in anderen Projekten einen Raum, in dem sich junge Leute treffen können. Viele Anarchist*innen haben viel Erfahrung mit horizontaler Organisationsarbeit, Entscheidungsfindung in der Gruppe und ähnlichem; bietet ihnen Möglichkeiten zum Kompetenzaustausch, Literatur, Hilfsmittel zum Moderieren oder andere Dinge, die sie benötigen.

  • Unterstützt Schülerstreiks. Wie It’s Going Down meldete, haben K-12-Schüler*innen von Iowa und Missouri bis hin zu Montana Streiks und Proteste gegen diese repressiven Maßnahmen organisiert. Verstärkt ihre Bemühungen; verbindet sie mit anderen Rebell*innen, die aus anderen Arbeitsplätzen auf die Strasse gehen. Wie wir bereits dargelegt haben, können Schülerstreiks exponentiell an Macht gewinnen, wenn sie sich mit anderen sozialen Kämpfen überkreuzen.

  • Unterstützung alternativer Bildungsangebote. Transfeindliche und homophobe Beschränkungen dessen, was junge Menschen in der Schule lernen dürfen, sind schlimm; aber wenn wir schon dabei sind, warum sollten Politiker*innen irgendetwas darüber entscheiden dürfen, was wir lernen, oder wie und wo wir es lernen? Fördert Deschooling, Unschooling, Homeschooling und andere Alternativen zum Status quo im Bildungswesen. Projekte wie die Albany Free School fordern den Würgegriff des Staates über das Leben und die Köpfe junger Menschen heraus; sie bilden oft auch für trans und queere Kinder ein viel positiveres Umfeld.

  • Helft mit, Zufluchtsorte für junge trans und queere Menschen in Not zu schaffen. So viele trans und queere Jugendliche werden obdachlos, weil ihre Wohnungen für sie nicht mehr sicher sind. Baut Netzwerke in der Gemeinschaft auf, um sicherzustellen, dass trans und queere Jugendliche in Notfällen eine sichere Unterkunft haben. Behaltet die rechtlichen Risiken im Auge, aber priorisiert die Sicherheit und Unterbringung junger Menschen in Not.

  • Helft mit, organisiert gegen den tatsächlichen Missbrauch von Kindern vorzugehen – und bekämpft die Versuche von Rechten, geschlechtsangleichende medizinische Maßnahmen für junge Menschen damit gleichzusetzen. Kindesmissbrauch – ob real oder eingebildet – war schon immer eine Obsession der Rechten, von Anita Bryants schwulen- und lesbenfeindlichem Kreuzzug mit dem Titel “Rettet unsere Kinder” im Jahr 1977 bis zu den Pizzagate und Q-Anon Verschwörungsideologien von heute. Doch wie diejenigen, die sich an konkreten Bemühungen zur Betreuung von Betroffenen von Kindesmissbrauch engagieren, nur zu gut wissen, kommt Kindesmissbrauch am ehesten in der Kernfamilie, in Kirchen und Sportvereinen vor – keine der genannten Institutionen werden von Konservativen auch nur ansatzweise in Frage gestellt. Hört den Überlebenden zu, erlernt Interventionstechniken die Umstehende anwenden können, schafft Räume für junge Menschen, wo sie offen über ihre Erfahrungen sprechen können, lehrt Verhaltensweisen der aktiven Zustimmung und gesunde Grenzen. Informiert euch über die Arbeit von Organisationen wie Generation Five die den Kampf gegen Kindesmissbrauch mit Bemühungen eines revolutionären sozialen Wandels außerhalb des strafrechtlichen Systems verbinden.

  • Politiker*innen widersprechen. Als Anarchist*innen sind wir nicht davon überzeugt, dass Lobbyarbeit sinnvoll ist, oder dass Legislatur unsere Probleme lösen wird. Aber wir respektieren die taktische Vielfalt. Es gibt viele Möglichkeiten, gegen repressive Gesetze zu kämpfen – in erster Linie durch ihr Missachten! Zudem kann mensch auch Flugblätter, Poster und Aufkleber verteilen und anbringen; protestiert gegen die Politiker*innen, die diese Gesetze propagieren, und stört ihre Veranstaltungen; entlarvt und behindert zwielichtige Organisationen wie ALEC, die repressive Gesetze schreiben und voranbringen.

  • Stellt trans und queeren Menschen durch direkte Aktion und gegenseitige Hilfe die Ressourcen zur Verfügung, die Politiker*innen ihnen vorenthalten wollen. Helft mit, geschlechtergerechte, selbstorganisierte Sportangebote für Schüler*innen, die vom Schulsport ausgeschlossen wurden, anzubieten. Stellt Ressourcen zu Geschlechtsidentität, Sexualität und anderen Themen, die von Schulen und vielen Eltern zensiert werden, zur Verfügung. Entwickelt gegenseitige Hilfsangebote, bei denen Kleidung, Make-up, Hygieneartikel und andere Notwendigkeiten an alle die sie benötigen verteilt werden, unabhängig vom Geschlecht. Das schließt Binder, Perücken, Brustformen, Material zum packen und ähnliches ein, besonders in DIY und leicht reproduzierbaren Formaten. Veranstaltet Selbstverteidigungs- und Deeskalationsworkshops für trans und queere Jugendliche, die sich vor Mobbing oder Missbrauch schützen müssen.

  • Bekämpft Massenüberwachung. In Anbetracht der Tatsache, dass einige dieser Gesetze vorschreiben, dass Schulangestellte trans und queere Schüler*innen bei ihren Eltern “outen” müssen, stellt die ohnehin schon beunruhigende Ausweitung von aufdringlichen Überwachungstechnologien in Schulprogrammen besonders beängstigende Folgen für LGBTIQ*-Jugendliche dar. Informiert euch und eure Mitmenschen über Datenschutztechnologien und wie ihr verhindern könnt, dass Software eure Aktivitäten im Internet verfolgt. Bietet, wenn ihr die Möglichkeit habt, in euren Gemeinschaftszentren anonymen Computerzugang an, damit Personen auf Ressourcen zugreifen und mit anderen in Kontakt treten können, etwas das ihnen mit privaten oder schulischen Geräten nicht immer möglich ist.

  • Bekämpft Transfeindlichkeit. Radikale, die nicht trans sind und sich an diesem Kampf beteiligen wollen, sollten sich darüber informieren, wie sie respektvoll mit trans und nicht-binären Menschen interagieren können. Hinterfragt eure eigenen Ansichten über Geschlechter. Nehmt die Erfahrungen anderer Menschen ernst, auch wenn sie sich von euren eigenen unterscheiden.

Gemeinsam können wir verhindern, dass Gerichte das Leben junger Menschen in den Ruin treiben, und einen weiteren Schritt in Richtung einer Welt gehen, in der alle dazu frei sind, ihr Potenzial nach ihren eigenen Kriterien zu entfalten. Gegen Patriarchat und Staatsgewalt – für Anarchie und Freiheit.


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